Der Baum

 

Du gehst an ihm vorbei, schenkst ihm keinerlei Beachtung.
Es ist tiefster Winter, jeder Baum ist kahl.


Für dich ist er in diesem Moment nur ein Baum unter vielen, aber er ist es nicht.
Doch kümmert es dich?
Du hast besseres zu tun, als die stille Schönheit eines Baumes in der kalten Jahreszeit zu bewundern.


Er straft dich nicht für dieses Verhalten.
Für ihn bist du auch nur ein weiterer geschäftiger Mensch, der diese Strasse entlang eilt.

 

Kaum einer schenkt ihm einen Blick, noch seltener verweilt jemand an dieser Stelle, die Augen auf ihn gerichtet.


Doch dieses Mal ist es anders.
Du bleibst plötzlich stehen, legst die letzten Meter noch einmal zurück.


Einen langen Augenblick stehst du da, ehe sich ein feines Lächeln auf deinen Lippen bildet und du die Strasse verlässt.
Dein Lächeln verbreitert sich leicht, als du die Erde unter deinen Schuhen spürst und langsam, Schritt für Schritt, auf ihn zukommst.

 

Beinahe ehrfürchtig berühren deine Finger seine raue Rinde.
Die Rinde, die die ganze Geschichte seines langen Lebens erzählt.


Deine Augen schliessen sich einen Moment, vorsichtig erkundest du dann die unregelmässige Oberfläche.
Erneut huscht ein Lächeln über dein Gesicht.
Ja, du hast ihn in diesem Augenblick erkannt.
Seine Erinnerungen öffnen sich dir.


Du siehst die wilden Kletterpartien aus deiner Kindheit, der erste scheue Kuss in deinen Jugendjahren und manch schöne Sternennacht, die ihr gemeinsam erlebt habt.
Er hat sich damals mit dir zusammen über Dinge gefreut, doch er hat genauso mit dir getrauert.


Doch eines Tages bist du nicht mehr gekommen.
Er hat dich keinen Moment für das verurteilt.
Sein Leben ging einfach weiter.
Menschen kamen und gingen.
Kinder eroberten seine Wipfel, manche fanden unter seinem Schutz die Liebe zueinander und andere genossen in seiner Gegenwart den Zauber und die Schönheit der Nacht.

 

Dann kam diese Strasse.
Niemand besuchte ihn mehr.
Stattdessen eilten die Menschen hastig an ihm vorbei.
So auch du.


Er erkannte dich sofort.
Doch du hast bis heute gebraucht, bist du ihn ebenfalls erkannt hast.

 

Erneut legt sich deine Hand auf seine Rinde, deine Augen fixieren die kahlen Äste.
Er ist ein einfacher Baum, doch er verbirgt viele Geheimnisse.
Auch eure.


Du sprichst kein Wort, doch er nimmt deine Entschuldigung an.
Fügt sie als neue Erinnerung, als neues Geheimnis, in die raue Rinde seines Stammes ein.

 



Dezember 2005

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 4
  • #1

    gesche (Dienstag, 08 Februar 2011 18:56)

    Hallo kleines Weidetier.
    Dein Baum Gedicht gefällt mir sehr, da es mir aus meiner Seele spricht, weil ich so Erlebnisse auch schon hatte. Du hast mich daran erinnert. Danke!
    Schöne Momente im Leben...

  • #2

    Pippi (Donnerstag, 17 März 2011 18:29)

    zu lang viel zu lang

  • #3

    Lee (Sonntag, 20 März 2011 15:47)

    wunderwunderschön!

  • #4

    Me (Montag, 02 April 2018 15:33)

    Welch wahre und so wunderschöne Worte... Genau so hab ich es einst empfunden... Ich hab alles mit anderem Augen gesehen... Und jetzt? Schaut Sie euch an! Unsere starken Bäume der Zeit... Sie sind schwach geworden :( Es ist so traurig Sie so zu sehen! Doch eines zeigen Sie in dieser schweren Zeit... Sie heben ihre Köpfe! Sie tragen trotz allem erneut Ihre Knospen und ich wünsche mir so sehr, dass Sie es schaffen, diese schwere Zeit gut zu überstehen und Sie trotz allem erneut in voller Pracht zu sehen <3 Peace :)